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Die Familienchronik zeigt uns anschaulich, dass der Glaube an Gott und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion früher bedeutend wichtiger erschien als in unserer Zeit, in der immer zahlreicher Kirchenaustritte registriert werden. Die Religion bestimmte damals das Zusammenleben; sie kennzeichnete Freund und Feind. Es ist nicht überliefert, ob unsere Vorfahren das Hugenottenkreuz ) getragen haben, aber wir wissen, dass sie sich durch ihre Lebensweise eindeutig zum Christentum bekannt und danach gelebt haben. Bis 1945 war eine reich bebilderte Bibel im Familienbesitz, die nicht nur im Regal stand, sondern auch gelesen wurde. Unsere Vorfahren gehören unzweifelhaft zu den Réfugies, die man gemeinhin als Hugenotten bezeichnet und als Protestanten in Frankreich so lange verfolgt wurden, bis sie schließlich aus ihrer Heimat flüchteten. Hugenotten stammten überwiegend aus dem Süden Frankreichs. Auf der Flucht fanden sie neben den härteren klimatischen Bedingungen auch andere Lebensgewohnheiten vor. Statt Weißbrot und Wein, wie sie es gewohnt waren, mußten sie Graubrot und Bier akzeptieren. Diejenigen aber, die die Strapazen der gefährlichen Massenquartiere in der Schweiz, in Württemberg und Franken mit mangelhafter ärztlicher Betreuung, unzureichender Verpflegung und primitiven hygienischen Verhältnissen überstanden haben, sind mit Recht als äußerst widerstandsfähig anzusehen. Daneben galten Hugenotten allerdings auch als „ökonomische Avantgarde“ und als „merkantilistische Experimentalisten“ infolge der Benutzung rationellster Betriebsformen (Verlage, Manufakturen) und durch die Anwendung produktionssteigernder Arbeitsmethoden (Spezialisierung und Akkordarbeit gegen Stücklohn), durch das Hervortreten gewisser sozialgeschichtlicher Erscheinungen in ihren Reihen wie die Doppelfunktion der marchands manufacturiers als Produzenten und Kaufleute, wie den langsamen Niedergang der Strumpfwirkerei bei gleichzeitigem Anstieg der Lederhandschuhmacherei und den Einklang von Frömmigkeit und Geschäftssinn, die sich durchaus nicht ausschlossen, durch ihre reiche und vielseitige berufliche Gliederung und durch die einseitige Vorherrschaft der Textil- u. Ledergewerbe, worauf deren mangelnde Krisenfestigkeit und ökonomische Anfälligkeit beruhte, ausgelöst durch Absatzschwierigkeiten auf den großen Warenmessen jener Zeit.
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